Charisma – Muss man das haben?

Um Menschen zu gewinnen, ist emotionales Anstiften wirksamer als rationales Argumentieren. Manch einer kann das besonders gut. „Der Typ“ braucht nur einen Raum zu betreten und alle schauen sofort in seine Richtung. Ein raumfüllender charismatischer Mensch kann andere in seinen Bann ziehen.

Seine aufrechte Haltung und sein klarer Blick lassen erkennen: Er weiß, was er will. Seine Bewegungen und Gesten wirken wie eine bestimmende Kraft. Vom Klang seiner Stimme und der Klarheit seiner Gedanken in einfacher Sprache geht Faszination aus, der sich die Angesprochenen nur schwer entziehen können.

Charisma narkotisiert

Mehr oder weniger verfallen die Menschen dem Charismatiker in hingerissenem Versinken und sind so nicht mehr ganz Herr ihrer selbst. Im Moment sind sie begeistert, doch später fällt ihnen so manch Kritisches ein. Sie fallen in einen gewissen Rausch. Wir kennen das vom Zuschauen eines Drahtseilaktes oder von der tosend jubelnden Teilnahme an einem Rockfestival. Und wer hat es noch nicht erlebt, sich beim Blick aus dem Fenster eines fahrenden Zuges „in der Landschaft zu verlieren“, ebenso wie beim Schauen in den nächtlichen Sternenhimmel? Das Gewicht und die Dichte eindrucksvoller Stille kann uns ebenso bannen, wie die gefangennehmenden Worte eines geschickten Demagogen. Charisma betäubt durch Faszination.

Mit Charisma führen?

So gesehen verliert charismatische Menschenbehandlung durch Führungskräfte erheblich an Wert. In einer Zeit, in der tragfähige Entscheidungen erst nach gründlicher Diskussion in interdisziplinären Teams zustande kommen, hat das schneidige „Mir nach!“ keinen Platz mehr. Die Fähigkeit zur kritischen Stellungnahme in komplexen Sachverhalten darf keinesfalls gehemmt, sie muss bei den Teammitgliedern gefördert werden. Gefragt ist nicht der raumfüllende Charismatiker, sondern die raumgebende Führungskraft. Ihr fällt es leichter, eine zurückgenommene Rolle einzunehmen.

Charismatische Ansprache ist die geeignete Methode, um die Konzentration der Mannschaft auf ein Thema zu lenken. Aber beim Beratschlagen selbst, wenn es darum geht, herauszufinden welche Lösung sich für ein anstehendes Problem als die beste herausstellt, ist es zwingend geboten, dass die leitende Person weitgehend in den Hintergrund tritt und den Beteiligten den Raum zur Diskussion freigibt. Sonst hindert sie die Gruppe daran, sich selbst zu regulieren, eigenverantwortlich das Gespräch zu entwickeln, um schließlich ihren Reichtum an Ideen zu enthüllen.

Aufgemerkt:

Meinem Blog-Beitrag Führungsstile und der Spielraum der Persönlichkeit füge ich hiermit zwei weitere bisher kaum beachtete Führungsstile hinzu: den raumfüllenden und den raumgebenden Führungsstil. Gewöhnlich wird Menschen ohne charismatische Ausstrahlung nicht recht zugetraut, Führung zu übernehmen. Aber nach dieser Betrachtung des Phänomens Charisma aus der Perspektive der Gebannten, kommen wir zu einem anderen Resultat: Am Ende erweist sich die Fähigkeit, den Teammitgliedern Raum zur Entfaltung zu geben, als der produktivere Weg.

Wer detaillierter wissen will, wie raumfüllende und raumgebende Führung im Verlauf eines Change-Prozesses zusammenwirken und ihre Übergänge gestaltet werden können, dem sei die Lektüre des Buches Mit Teamgeist führen empfohlen.

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