Auf den ersten Blick stellen Reorganisationen nicht die ganz große Herausforderung für das Change Management dar: Man muss halt ein bisschen kommunizieren (soweit man es angesichts der zeitweiligen Informationssperre überhaupt darf), man muss die Notwendigkeit organisatorischer Veränderungen erklären, das beschlossene neue Organigramm erläutern, dafür sorgen, dass alle verstehen, was ihre künftige Rolle ist … Aber ganz ehrlich: Gleich wie gut oder schlecht man kommuniziert, wenn die neue Struktur nicht völlig vermurkst ist, nimmt sie am Stichtag ihre Arbeit auf. Wenn auch vielleicht unter Ächzen und Rumpeln.
Geraume Zeit hielt ich Reorganisationen daher für relativ langweilige Change-Projekte: Gut zum Üben, zumal man dabei nicht viel verderben kann, aber keine Herausforderung für Fortgeschrittene. Bis ich anhand einiger erschreckender Beispiele erkannte, dass man eben doch einiges verderben kann – nicht zuletzt die Kultur und das Vertrauen in das Top-Management. Dass sie bei genauerem Hinsehen aber auch enorme Gestaltungschancen eröffnen, gerade für Change Manager, die mit dem Thema Kulturveränderung vertraut sind.
Keinen vermeidbaren Schaden entstehen lassen
Die erste wichtige Change Management-Aufgabe bei Reorganisationen ist, Schaden abzuwenden. Der droht weniger davon, dass die Gründe für die Änderung der Organisationsstruktur und/oder das neue Organigramm nicht gut genug erklärt werden – er droht bei der Kommunikation mit denen, deren künftige Aufgabenfelder sich gegenüber den heutigen deutlich verändern, und insbesondere beim Umgang mit den „Verlierern“ der Reorganisation.
Für diejenigen, deren Funktion, Rolle oder Aufgabenspektrum sich verändert, ist es ein himmelweiter Unterschied, ob sie gefragt und um ihr Einverständnis gebeten werden, oder ob man sie einfach irgendwo hinschiebt. Auch wenn sie natürlich wissen, dass das eine Bitte ist, die sie kaum ablehnen können, zeigt es ihnen doch, dass der Vorstand davon ausgeht, dass sie eine eigene Meinung zu ihrer künftigen Rolle haben, und dass ihm diese Meinung nicht völlig egal ist. Ungefragt irgendwo hingesetzt zu werden, bedeutet ein hohes Maß an Fremdbestimmung; kein Wunder also, wenn sich die Betroffenen darüber empören, „herumgeschoben zu werden wie Möbelstücke“.
Der absolute GAU ist jedoch, wenn Führungskräfte, die durch die Reorganisation ihren Job verlieren, davon erst bei der öffentlichen Vorstellung der neuen Organisation erfahren – und zwar dadurch, dass sie in dem Organigramm vergeblich nach ihrem Namen suchen. Denn die aufsteigende Panik und das Entsetzen, das sie in dieser Situation empfinden, erleben natürlich auch ihre Kolleginnen und Kollegen mit – und sind schockiert: „So kann man doch nicht mit Menschen umgehen!“ So kann sich eine scheinbar kleine Nachlässigkeit in der Kommunikation zu einem dauerhaften Vertrauensverlust in das Top-Management auswachsen.
Einmalige Chance zur Weiterentwicklung der Kultur
Solche leichten und – im Rückblick! – naheliegenden Fehler zu vermeiden, ist, wie Sie in dem Buch erkennen werden, aus mancherlei praktischen Gründen schwieriger als gedacht. Doch die Meisterstufe des Change Management ist, nicht nur fatale Fehler zu vermeiden, sondern das Potenzial für eine strategiekonforme Weiterentwicklung der Unternehmenskultur zu nutzen, das in fast jeder Reorganisation liegt.
Um dieses Potenzial zu erkennen, muss man sich bewusst machen: Der größte Feind einer Kulturveränderung sind normalerweise, im laufenden Betrieb, die eingespielten Routinen und Gewohnheiten. Tendenziell verhalten sich die allermeisten Menschen heute ziemlich genau so, wie sie sich gestern und vorgestern auch verhalten haben – und sie erwarten dies auch von ihren Kolleginnen und Kollegen, von ihren Chefinnen ebenso wie von ihren Mitarbeitern. Eine Verhaltensänderung ist unter diesen Bedingungen schwierig, erst recht eine dauerhafte.
Eine Reorganisation jedoch bringt viele der eingespielten Routinen und Abläufe durcheinander: Ansprechpartner und Zuständigkeiten wechseln, manche alten Schnittstellen verschwinden, während neue entstehen, Hindernisse fallen weg, neue Möglichkeiten, aber auch neue Restriktionen tun sich auf. Mit anderen Worten, die Mitarbeiter aller Ebenen müssen sich neu orientieren. Sie können nicht mehr „auf Autopilot“ arbeiten, sondern müssen neue Beziehungen zu neuen Schnittstellenpartnern aufbauen und mit ihnen einen neuen Modus der Zusammenarbeit finden: Die neue Organisation muss sich „zurechtruckeln“.
Unter Umständen sorgt die neue Struktur sogar für ein neues „Wir“, dem die primäre Identifikation der Beschäftigten gilt. Bei der Einführung von Business Units beispielsweise ist mit „Wir“ bald nicht mehr die ganze Firma gemeint, sondern der eigene Geschäftsbereich. Werden neue Abteilungen und Bereiche geschaffen, ist mit „wir“ primär die eigene Einheit gemeint. Das verändert Grundlegendes, nämlich, wen wir als „einen von uns“ betrachten und daher nach Kräften unterstützen und wen wir als Außenstehenden ansehen und uns daher weit weniger mit ihm verbunden sehen.
Die große, unwiederbringliche Chance liegt darin, diesen unvermeidlichen Prozess der Anpassung der Kultur an die neuen Strukturen und Rahmenbedingungen nicht einfach sich selbst zu überlassen, sondern aktiv zu gestalten. Und zwar entlang der simplen Frage: Welche Kultur brauchen wir, um in unserem künftigen Geschäft und in unserer neuen Struktur erfolgreich zu sein? Was sich wiederum zweiteilen lässt in die beiden Fragen: Welche Stärken der bisherigen Kultur sollten wir unbedingt bewahren und in die neue Struktur mitnehmen? Und: Welche Gewohnheiten sollten wir anpassen oder für die künftigen Anforderungen neu entwickeln?
Tatsächlich gibt es kaum einen besseren Moment für die Weiterentwicklung der Kultur als unmittelbar im Anschluss an eine Reorganisation. Die Herausforderung ist, diese Chance zu nutzen, bevor sich dieses „Window of Opportunity“ nach ein paar Wochen wieder schließt, weil sich inzwischen neue Identitäten, Routinen und Gewohnheiten herausgebildet haben.
Vier Grundtypen von Reorganisation
Auch wenn jede Reorganisation (ein bisschen) anders ist, gibt es vier Grundmuster, die den Löwenanteil ausmachen – jedenfalls wenn man von kleineren Reorganisationen auf Abteilungs- und Bereichsebene absieht. Das sind:
- Das Einziehen einer zusätzlichen Führungsebene bei größer werdenden Startups und stark wachsenden Unternehmen,
- der Wechsel von einer funktionalen auf eine divisionale Struktur (also auf Sparten / Geschäftsbereiche / Business Units),
- der Wechsel auf eine Matrixorganisation bzw. die Umstellung der Matrix von der Teilautonomie der regionalen Strukturen auf einen weltweiten Durchgriff der Sparten / Geschäftsbereiche
- die Restrukturierung einer in die Jahre gekommenen Organisation, wenn sich die Erfolgsfaktoren des Geschäfts geändert haben und die Kosteneffizienz zu einem, wenn nicht dem zentralen Erfolgsfaktor geworden ist.
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Dieses Buch befasst sich nicht nur mit Reorganisation generell, sondern geht auf die Besonderheiten dieser unterschiedlichen Typen von Reorganisation ein – einschließlich ihrer besonderen kritischen Momente und ihrer unterschiedlichen Voraussetzungen für eine strategiekonforme Neuausrichtung der Unternehmenskultur.