Das Chancen-Programm für Krisen

Verantwortung und Orientierung in schwierigen Zeiten:

Eintrübung der Konjunktur, Rezession, Corona, Handelskonflikte – seit Monaten wird über die Krise gesprochen. Mittlerweile lässt sich diese auch an den volks- und betriebswirtschaft­lichen Zahlen ablesen: sinkendes Wachstum, Umsatzstagnation, rückläufige Investitions­quote, Aufnahmestopp, schlechte Stimmung in den Märkten. Gerade in dieser Situation wird eine Fähigkeit entscheidend: echtes Leadership.

In der öffentlichen Diskussion wird momentan über den Abschwung diskutiert und wie dieser aufzuhal­ten oder zumindest abzumildern ist. Vor allem wird die Forderung nach neuen Staatsschulden und öf­fentlichen Subventionen laut. Dabei übersehen wir, dass die öffentliche Verschuldung automatisch steigt, weil den gleichbleibenden öffentlichen Aus­gaben ein verringertes Steueraufkommen gegen­übersteht. In Krisenzeiten können öffentliche Pro­gramme helfen, soziale Verwerfungen zu verhindern und die Gesellschaft stabil zu halten. Dies ist legitim und im Sinne einer funktionierenden Demokratie.

Richtiges und falsches Krisenverständnis

Allerdings wird dabei ein ökonomisches Gesetz völ­lig in den Hintergrund gedrängt: Eine Wirtschaft wandelt sich vor allem in Krisenzeiten und weniger in der Hochkonjunktur. Wenn Steuermilliarden da­zu verwendet werden, die »alte Welt « zu stützen , dann mag dies kurzfristig Applaus hervorrufen. Es verhindert aber einen System- und Strukturwandel, der seit Jahren überfällig ist. Stichworte sind hier Mobilität, Energie, Digitalisierung, Klima, Diversität usw. Die Unterstützung der deutschen Automobil­industrie nach 2009 hat dazu geführt, dass es nach wie vor keinen Wandel in dieser Schlüsselbranche gibt. Immer noch dominieren PS, Größe, Testoste­ron und Verbrennungsmotor. Apple hat die Wende in einer Zeit der Flaute Ende der 1990er-Jahre einge­leitet. Und seitdem es dem Unternehmen blendend geht, kommen keine durchschlagenden Innovatio­nen mehr. Eine Krise kann nur mit Veränderung be­endet werden. Eine Krise ohne Veränderung wird die Probleme nur verlängern.

Wandel geschieht vor allem in Krisenzeiten und nicht in der Hochkonjunktur.

In diesem Zusammenhang ist die Geschichte des Begriffs »Krise« interessant. Die Bedeutung im Alt­griechischen lautet »Entscheidung « bzw. »Wende­punkt«. In der Medizin der frühen Neuzeit wird un­ter »Crisis« eine zumeist fieberhafte Erkrankung verstanden, die eine Krankheitsabwehr hervorruft, an deren Ende wieder ein gesunder Organismus steht. Es braucht kein sprachwissenschaftliches Studium, um die Parallelen zum heutigen Krisen ­verständnis herzustellen. Letztlich ist es Aufgabe und Verantwortung der Führung, die richtigen Ent­scheidungen zu treffen, damit eine Organisation in schwierigen Zeiten wieder fit wird. Genau das ist der Wendepunkt zwischen der »alten Welt« und der »neuen Welt«. Wer dieses tiefgreifende Verände ­rungsverständnis nicht hat, wird in der Zukunft nur die Vergangenheit sehen können – und ist letztlich ein Risiko für unsere Unternehmen.

Krise bedeutet die Fähigkeit zur Reflexion, Chan­cen-Erkennung und Orientierung. Genau das sind die Stichworte für echtes »Leadership « in schwierigen Zeiten. Erkennen wir rechtzeitig neue Entwick­lungen? Sind wir diesen vielleicht voraus? Nutzen wir die Lage für die Neugestaltung des Geschäfts­modells? Können wir diejenigen Themen angehen, die aufgrund des Tagesgeschäfts immer zurückge­stellt wurden? So lauten die entscheidenden Fra­gen. In Zeiten stabiler Verhältnisse kann der Erfolg der Vergangenheit in die Zukunft fortgeschrieben werden, in der aktuellen Situation funktioniert das definitiv nicht mehr.

Reaktionsmuster in Krisen

In schwierigen Zeiten sind einige organisationspsy­chologische Verhaltensweisen auffällig. Die erste ist Kontinuität. Gemeint ist, dass Mitarbeiter und Führungskräfte in einer Krise die Fortschreibung der Vergangenheit unter verschärften Bedingun­gen sehen. Es geht nicht darum, die Richtung zu verändern oder etwas anders zu machen, sondern darum, sich einfach mehr anzustrengen. »Augen zu und durch« ist die Hoffnung, nach dem Durchtau­chen wieder die gewohnte Situation vorzufinden.

Menschen und Organisationen sind typischer­weise rückwärtsgewandt.

Die zweite ist die sogenannte zeitverzögerte Pro­blemerkennung. Gemeint ist damit, dass Schwie­rigkeiten erst dann wahrgenommen werden, wenn sie in den operativen Zahlen sichtbar sind. Und das bedeutet: kurz vor dem Auftreten echter Pro­bleme. Dieses Phänomen wurde bereits während der Finanzkrise 2008 in vielen Studien belegt. Es zeigt auch auf, dass unser wirtschaftlicher Wahr­nehmungsapparat sehr einseitig ist. Sinkende Ge­winne und Verschlechterung der Liquidität sind natürlich Auslöser für Veränderungen. Allerdings ist es dann meistens zu spät, weil die Zeit zur Kor­rektur fehlt. Die dritte Verhaltensweise ist das Phänomen »Kostensenkung vor Neuorientierung«. Der Fokus liegt auf Kostenprogrammen, Personalreduktion und der Suche nach Liquidität. Hier geht es nur um operative Zahlen und um kurzfristige Effekte – im Gegensatz zu einer echten strategischen Neuaus­richtung oder Restrukturierung. Es ist einfach, bei Innovation, Qualität und Personalentwicklung zu sparen und kurzfristig den Gewinn zu maximieren. Mit echtem Unternehmertum hat das Ganze nichts zu tun, weil die langfristigen Erfolgspotenziale be­schnitten werden. Auch hier wird deutlich, dass ein unternehmerischer Ansatz immer langfristig ausge­richtet ist: Nicht der kurzfristige Erfolg steht im Zen­trum, sondern ein langfristig lebensfähiges, gesun­des Geschäft. Ein dauerhafter Wettbewerbsvorteil entsteht nicht mit niedrigen Kosten, sondern mit überlegenen Produkten und Dienstleistungen.

Entwicklung eines Chancen-Programms

Diese organisationspsychologischen Verhaltens­weisen ergänzen und verstärken sich gegenseitig. Kompetente Führung bedeutet aber, eine Krise als Startpunkt für ein Zukunftsprogramm zu nutzen. Die aktuell wichtigste Aufgabe für Aufsichts- und Exekutivorgane ist es, den Krisenmodus zu beherr­schen und Chancen zu entwickeln. Die Qualität der Führung zeigt sich in der Krise und nicht in der Hochkonjunktur. Ein altes italienisches Sprichwort sagt »Die Flut hebt jedes Wasserfahrzeug, auch den morschesten Kahn.« überspitzt war die Boompha­se seit der Finanzkrise ein Schönwettersegeln unter idealen Bedingungen. Jetzt wird sich zeigen, wel­ ´che Unternehmen auch in schwierigen Gewässern navigieren können. Solange Märkte automatisch wachsen und Hoch­konjunktur herrscht, bleiben Verstöße gegen stra­tegische Grundsätze weitgehend folgenlos. In der jetzigen Situation sieht dies völlig anders aus. Viel wichtiger als Wachstum, Größe oder Diversifikation sind Wettbewerbsfähigkeit, Beweglichkeit, Tempo und Fokussierung. Gewinnmaximierung als Steue­rungsgröße ist gefährlich, weil dies ein Fahren mit dem Rückspiegel bedeutet. Die Führung sollte eine Krise als Anlass nehmen, das Unternehmen neu zu justieren und die Weichen zu stellen: Konzentration auf Kundennutzen und Marktführerschaft, Platz schaffen für Innovationen, eine »systematische Müllabfuhr« für alles, was sich angesammelt hat, und ein neues Organisations- bzw. Führungsver­ständnis. In den letzten Jahren haben zahlreiche Unterneh­men gezeigt, dass sie Engpässe, Probleme und Schwierigkeiten in den Märkten für eine Neuauf­stellung bzw. Weiterentwicklung des Geschäftsnut­zen konnten: GE hat die zeit- und kostenintensiven Wartungsprozesse durch völlig neue Prognosesys­teme und digitale Zwillinge verändert. Das Start-up Funding Circle überwindet die Krise im Kreditge­schäft durch ein schnelles, unbürokratisches Ge­schäftsmodell des Crowd Lending. Das Unterneh­men iDM hat im gesättigten Wärmepumpenmarkt ein völlig neues Regelsystem entwickelt, das Ener­gieeinspeisung optimiert und Überproduktion ver­meidet.

Es gilt, unternehmerische Schlüsselmaß­nahmen für die »neue Welt« zu identifizieren.

Im Erarbeitungsprozess des Chancen-Programms werden entlang der Kernthemen eine Beurteilung der »alten Welt« vorgenommen und unternehmeri­sche Schlüsselmaßnahmen für die »neue Welt« identifiziert. Die Kernthemen des Chancen-Pro­gramms sind:

  1. Wettbewerbsfähigkeit : Wie bauen wir Kunden­nutzen und Marktstellung aus?
  2. Innovation: Mit welchen Themen sind wir künf­tig »anders und besser«?
  3. Stärken: Mit welchen Fähigkeiten wollen wir uns künftig positionieren?
  4. Geschäftsmodell : Wie müssen wir unser Ge­schäftsmodell verändern?
  5. Fokussierung: Auf welche Geschäftsfelder bzw. Funktionen wollen wir uns konzentrieren und was ist zu bereinigen?
  6. »Müllabfuhr«: Wie schaffen wir Platz für Neues und gewinnen damit Ressourcen für die wirklich wichtigen Themen?
  7. Tempo: Wie kann unser Unternehmen schneller und beweglicher gemacht werden?
  8. Finanzen: Wie sorgen wirweiterhin für Profitabi­lität, Liquidität und finanzielle Unabhängig­keit?
  9. Führung: Welches Führungs- und Organisati­onsverständnis brauchen wir für die »neue Welt«?
  10. Wandel: Wie stellen wir Veränderungsfähigkeit dauerhaft sicher?

Auf diese Fragen muss man eine Antwort finden, um den Kurs zu verändern und echten Wandel ein­zuleiten. Gleichzeitig wird damit auch klar, wer in schwierigen Zeiten ein Szenario für die »neue Welt« entwerfen und eine Perspektive entwickeln kann.

Jede Krise bedeutet Unsicherheit, daher muss die Führung Orientierung geben und ein klares Sig­nal für Zukunft setzen; vor allem auch, weil es keine Alternative dazu gibt. So wird aus einem Umbruch ein Aufbruch und aus einer Krise der Gegenwart ei­ne Chance der Zukunft.

Dies ist ein Auszug eines Artikels von Prof. Roman Stöger. Den kompletten Beitrag zum Gratis-Download finden Sie auf zfo.de.

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